3 Und als Jesus in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit un-verfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt. 4 Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? 5 Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an. 6 Jesus aber sprach: Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. 7 Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. 8 Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis. 9 Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.

Markusevangelium 14, 3-9
1. Nähe tut gut! Und fehlt

Vorgestern beim Joggen und Fahrradfahren. Als mein Sohn und ich eine kurze Pause machen, fragt mit einem Mal jemand: „Entschuldigung, könnten Sie mir kurz hochhelfen?“ Ein alter Mann sitzt auf einer Bank hinter uns und schaut mich an. „Aber natürlich“ sage ich, schon auf dem Weg zu ihm, als das STOP-Schild im Kopf die Schritte unsicher und langsamer werden lässt. „Nicht zu nah ran, Tabea. Abstand halten!“ so mahnt die eigene innere Stimme. Aber wie soll das gehen? Der Mann spürt mein Zögern und entschuldigt sich. Ich helfe ihm, auf etwas umständliche Art und Weise und ja, auch etwas verlegen. Dann bedankt er sich leise, und ich sehe ihn davon gehen. Langsam, gebrechlich.
Da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit unverfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf Jesu Haupt.
Ja, wie schön wäre das mal wieder. Nähe zeigen können. Wie diese Frau. Nah ran gehen dürfen. Und einfach berühren. Den Nächsten. Dem man hilft. Oder liebt. Oder tröstet. Dem man etwas Gutes tun will. Eine Hand reichen. Oder auf die Schulter klopfen. Ohne zu Zögern. Stattdessen Trauerfeiern im Freien, nur Verwandtschaft ersten Grades erlaubt. Menschen auf Intensivstationen und in Pflegeheimen, die von fast aller Nähe isoliert sind, Einkaufen mit Ein-lass an der Tür und der Geburtstag des eigenen Kindes, heute an diesem Sonn(en)tag, ohne Verwandtschaft und Freunde. Ich spüre, was fehlt. Mir und anderen. Mit denen man nah ist – und zugleich Distanz halten muss. Ja, wie schön wäre das mal wieder. Nähe zeigen dürfen. Ohne nachzudenken.
Und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt.
Da, in unserer Geschichte, ist so viel Nähe! So kurz vor Ostern. Dem allerersten Ostern überhaupt. Da ist diese Frau, die Jesus berührt und verwöhnt. Mit Öl. Weiß und zart ist das Fläschchen. Aus Alabaster. Das hat sie mitgebracht. Und vorher gekauft. Ein Jahres-lohn etwa wert ist es. Völlig verrückt eigentlich. Und genau richtig. Und so zerbricht sie es. Und Nähe entsteht. Und Liebe fließt.

2. Nähe hat ihren Preis

Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? 5 Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an.
Was für eine Verschwendung! Empören sich die, die dabei sind. So viel Geld, einfach vergeudet. Was hätte man damit nicht alles tun können? Stattdessen? Der Ton und die Stimmung ändern sich, wenn sich Nähe zu ungewöhnlichen Zeiten und auf ungewöhnliche Art und Weise Bahn bricht. Und in den Augen anderer unverhältnismäßig ist, hat man doch gerade genug mit sich selbst zu tun. „So viel Geld aus dem Fenster geschmissen – und andere müssen Flaschen sammeln gehen.“ „Was sollen wir noch Kranke aus dem Ausland aufnehmen? Die Betten müssen doch für uns reichen.“ Oder: „Wenn wir uns jetzt noch die Flüchtlinge ins Land holen, na dann Gute Nacht.“ Stimmen der Empörung. Damals und heute zu hören. Und es gibt neben der Distanz, die es körperlich zu wahren gilt, dann auch eine Distanz im Herzen, die wächst. Der Ton ändert sich. Bleibt man zu nah nur bei sich. Es wird viel diskutiert über den Sinn von Corona, sollte es denn einen geben. Darüber, was uns das Virus bringt. Ob wir anders aus der Krise hervorgehen werden. Achtsamer? Aufmerksamer? Oder ob alles so bleibt, wie es ist. Sinndeutungen ohne Ende. Und ich lese unseren Text und denke schlicht: wie schön wäre das mal wieder. Und wie schön ist es: Einfach Nähe zeigen. Vielleicht wäre das ein Sinn, wollte man ihn denn geben: neu zu entdecken, wie wertvoll und kostbar Nähe ist. Nicht selbstverständlich. Und nicht immer sich selbst verständlich machend.

3. Nähe als gutes Werk

Jesus aber sprach: Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun.
Jesus verteidigt die Frau. Er würdigt ihr Verhalten. Würdigt, dass sie ihrem Bedürfnis nach Nähe nachgekommen ist. Einfach reingeplatzt ist in diese Runde von Menschen. Reingeplatzt in Jesu Leben. Jetzt. Genau zu dieser Stunde. Und genau damit ein gutes Werk getan hat. Die Liebe gebracht und sich dabei an keine Bedingungen gebunden hat. Allen Widrigkeiten zum Trotz und so, wie sie es vermochte, hat sie Nähe hergestellt. Und alles gegeben. Denn hätte sie gefragt, sie hätte wohl kaum Einlass bekommen. Hätte sie ihre Tat groß angekündigt, es wäre wohl nicht dasselbe gewesen.
Und viele Menschen tun es wie sie in diesen Zeiten: tun gute Werke. Und stellen Nähe, die fehlt, auf andere Weise her. Überlegen, wie aus der Hilflosigkeit, die uns in diesen Tagen manchmal umtreibt, Liebe und Nähe entstehen kann. Sie tun dies, indem sie ganz beim Nächsten bleiben: reinplatzen in dessen Leben, geben, was sie geben können: den Gruß über die Straße, den Anruf am frühen Morgen, die WhatsApp-Nachricht jeden Abend, das Bild für Oma und Opa. Oder eine Schlange aus wunderbar bemalten Steinen an der Lenne, die mir ebenfalls beim Joggen ins Auge fällt – und die wächst und länger wird. Lebenszeichen voller Hoffnung sind das.
Und all das geschieht in der Gewissheit, dass wir, wenn alles vorbei ist, wieder richtig miteinander feiern werden: das Leben, die Nähe, Geburtstag und Berührung. Dinge, die Distanz zerbrechen lassen – wie das Gefäß der Frau. Das Leben feiern.

4. Nähe zur richtigen Zeit

Das Leben feiern. Ja, das tut diese Frau. Genau zur richtigen Zeit.
Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis.

Sagt Jesus. Vor einigen Tagen ist er eingezogen in Jerusalem, gefeiert und begrüßt, umgeben von Menschen, die seine Nähe suchten. Heute, an diesem Mittwoch in unserer Geschichte, ist noch alles gut. Heute sitzt Jesus noch zusammen mit anderen, wie er es so oft getan hat. Teilt Nähe und Liebe. Morgen dann wird er das letzte Abendmahl mit seinen Freunden feiern. Und dann, am Freitag, geht er ans Kreuz. Aus der Nähe hinaus in die Ferne – weiter weg geht nicht. Die Frau passt den richtigen Moment ab. Und feiert Jesu Leben. Noch einmal. Und sie ermutigt mich, den Mitmenschen ebenfalls im richtigen Moment zu sehen; in seiner Einzigartigkeit, in dem, was ihn und sein Leben gerade bestimmt. Sie ermutigt mich, das Vertrauen in das Wirken des Heiligen Geistes zu haben, zu erspüren, was jetzt gerade dran ist. Für den, der den Tod fürchtet; die, die einsam ist. Für die Alleinerziehende, die an die Grenze ihrer Kraft kommt. Und ihn, der seinen Job verloren hat. Und für die Menschen, die so weit gerückt sind, an den Grenzen, in den Lagern, in den umliegenden Ländern, Menschen, die unser Mitgefühl brauchen und so viel Liebe und Nähe nötig haben. Und unser Gebet und eine Politik der Hilfe.
Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.
Unsere Zeit ist jetzt. Die Zeit der Nähe in der Distanz. Die Zeit des Lebens, das wir feiern – allen Einschränkungen zum Trotz. Die Zeit des Erinnerns an den, der die Nähe zu uns zu keiner Zeit gescheut hat. Zerbrochen wie das Gefäß der Frau ist Jesus – um Liebe und Nähe zu verschenken. An uns.

Amen

Pfr.in Dr. T. Esch

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