Predigt Ostern 2020
So erzählt der Evangelist Johannes die Ostergeschichte:
Übersetzung Pastorin Ragna Miller
Maria steht vor dem Grab und weint. Sie weint, beugt sich vor und blickt in das Grab hinein. Sie sieht zwei Engel, in weiß gekleidet, sitzen, einen am Kopf, und den andern am Fußende, wo sie den Leichnam Jesu hingelegt hatten. Sie sagen zu ihr: „Warum weinst du? Wen suchst du?“ Sie sagt zu ihnen: „Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“
Noch während sie spricht, dreht sie sich halb nach hinten und sieht Jesus stehen. Und sie weiß nicht, dass es Jesus ist. Jesus sagt zu ihr: „Warum weinst du? Wen suchst du?“ Sie meint, er sei der Gärtner, und sagt zu ihm: „Hast du ihn weggetragen? Sag mir: Wo hast du ihn hingelegt? Dann will ich ihn holen.“ Jesus sagt: „Maria!“ Da dreht sie sich ganz um und sagt zu ihm auf Hebräisch: „Rabbuni!“, das heißt: Meister! Und Jesus sagt: „Berühr mich nicht! Ich bin noch nicht beim Vater. Lauf los zu meinen Geschwistern und sag ihnen: Ich gehe zu meinem Vater und eurem Vater. Zu meinem Gott und eurem Gott.“ Maria Magdalena geht zu den anderen und bringt ihnen die Nachricht: „Ich habe den Herrn gesehen.“
Liebe Gemeinde, Ostern beginnt am Grab.
Ein bisschen so wie Karfreitag und heller Sonnenschein ist das. Vorgestern. Kaum zusammenzubringen. Das Nachdenken über Jesu Tod am Kreuz und die Schönheit des Waldes, das Zwitschern der Vögel, die warmen Sonnenstrahlen. Ostern beginnt am Grab.
Das erste Ostern damals. Maria guckt tief ins Grab hinein. In diese Höhle da im Fels. Der Stein liegt noch neben der Öffnung. Sie schaut in die Dunkelheit. Jesus ist tot. Er starb am Kreuz. Alles zu Ende. Wo ist der Tote? Wo ist Jesus? Wo hat man den Leichnam hingebracht? Maria beugt ihren Oberkörper hinein in die Dunkelheit des Grabes. Hineingezogen in die Schwärze versinkt sie in der Trauer. Nichts lenkt ihren Blick ab. Wo ist der Tote? Wo ist Jesus? Wo hat man den Leichnam hingebracht? Diese Fragen drehen Kreise in ihrem Kopf.
Vertraute Fragen, wenn jemand stirbt. Und weggenommen, mitgenommen wird. Von jetzt auf gleich. Aus der Wohnung nach draußen. Oder aus dem Krankenhaus, das man selbst nicht mehr betreten durfte. Wo ist er? Wo hat man sie hingebracht? Und was ist dann? Wie viele Menschen dürfen im Moment dabei sein? Am Grab stehen? Noch einmal Abschied nehmen? Solche Fragen sind mir in letzter Zeit häufig begegnet. Fragen voller Schmerz und Trauer.
Ostern beginnt am Grab. Und Maria guckt tief in das Grab hinein. Dort, in der Tiefe des Steingrabes sitzen zwei Engel. Aber Maria erkennt sie nicht als Engel. Sieht sie nicht als Engel. Denn sonst hätte sie wohl anders reagiert. Oder wie würden Sie, würdet Ihr reagieren, wenn da auf einmal ein Engel steht oder sitzt? In Deinem Leben?
Ich habe mich das gefragt. Was würde ich tun? Und habe mich auch gefragt: Kann man Engel übersehen?
30 Jahre zuvor, rund um Bethlehem. Die Hirten auf den Feldern konnten es nicht. Fürchtet euch nicht – ertönte die Stimme durch die Nacht. Helles Licht unterbrach nächtliche Wacht. Hoffnung keimte sacht. Unübersehbar die Engel. Maria – die andere – die aus Nazareth, sah klar und deutlich den Engel, 9 Monate vor der Geburt von Jesus. Hörte ihn sprechen. Und ich frage mich: Kann man Engel übersehen?
Anscheinend schon. Denn im Grab sitzen Engel. An Kopf- und Fußende von Jesu letzter Ruhestätte. Leuchten sie in der Dunkelheit.
Und Maria ist versunken im Grab und in Hoffnungslosigkeit. Sieht keine Engel. Kein Licht. Wo ist der Tote? Wo ist Jesus? Wo hat man den Leichnam hingebracht? Nur diese Fragen sind es, die sie beschäftigen. Sie kreisen in ihrem Kopf. In laut und leisen Varianten. Schwirren, drängeln, johlen, sirren unverhohlen in ihrem Kopf.
Der Tod überzeugt, und keine andere Wahrheit findet neben ihm Platz. Trauer kann gefangen nehmen. Einen ganz einnehmen. Den Blick versperren. Und dann oftmals Engel erst im Nachhinein als solche sichtbar machen.
Doch dann wendet sich die Geschichte.
Noch während Maria die Engel übersieht und als solche verkennt, noch während sie nur nach dem Leichnam fragt, von Verzweiflung geplagt, dreht sie sich halb nach hinten, so heißt es. Ich stelle mir das so vor, dass sie den Kopf zur Seite dreht. Und einen Teil des Oberkörpers. Wie ein über die Schulter gucken. Warum sie das tut, das erzählt uns niemand. Vielleicht ahnte sie was? Wir wissen es nicht, aber wir erfahren: Sie dreht ihren Körper etwas aus dem Grab – aus der Dunkelheit. Später tut sie es nochmal. Sich drehen. Und lässt erst dann das Grab ganz hinter sich. Jetzt aber wendet sie die Schulter mit dem Kopf drauf, in dem all die Gedanken kreisen. Und sieht den Gärtner hinter sich stehen.
Wir, die wir die Geschichte kennen, wissen – es ist nicht der Gärtner. Es ist Jesus. Er ist zu sehen. Nicht länger tot. Nicht begraben. Nicht versteckt und zu betrauern. Es ist Jesus. Lebendig. Den Tod überwunden hat er. Auferstanden.
Maria aber steckt noch halb im Grab. Wo ist der Tote? Wo ist Jesus? Wo hat man den Leichnam hingebracht? Die Fragen kreisen in ihrem Kopf. Wieder und wieder. Und Jesus gibt sich nicht zu erkennen. Maria dreht sich aus dem Grab heraus, ein wenig, aber immerhin. Und sieht einen Gärtner. Einen Totengräber. Der bei Toten wacht und Gräber zumacht. Das ist ihr Blickwinkel. Und Jesus gibt sich nicht zu erkennen. Wie gut, denke ich. Denn nichts ist schlimmer als ein flotter Trost in tiefer Trauer. Wird schon. Wirst sehen.
Gott macht das. Wird gehen. Die Zeit heilt alle Wunden.
Ein Satz nur wenige Stunden danach. Eine erste, leichte Drehung hat Maria erst gemacht. Über die Schulter geguckt. Mehr noch nicht.
Mehr geht gerade noch nicht. Das Kreuz, der Tod, das Grab.
Sie wiegen noch zu schwer an diesem Morgen in Jerusalem. An diesem Morgen in der ganzen Welt. Nein, nichts ist schlimmer als ein flotter Trost in tiefer Trauer. Warum weinst du? Wen suchst du?
Das sind die Fragen, die Not tun, wenn ein Mensch traurig ist.
Die Fragen der Engel im Grab waren es. Die Fragen Jesu vor dem Grab sind es. Erzähl mir von deiner Angst. Deiner Sorge. Deiner Trauer. Deinem Liebeskummer. Erzähl mir von dem, was Dein Leben gerade schwer macht. Und dunkel. Kein billiger Trost, der die Tränen brutal wegwischt. Und das ist eine große Aufgabe. Mitleid schenken. Nicht ausweichen. Gerade auch jetzt, in diesen Zeiten. Ernstnehmen, was Menschen gefangen hält. Jesus kann warten und mit aushalten. Ist die Geduld in Person. Das hat sich durch Tod und Auferstehung nicht verändert. Und das gefällt mir so an diesem Jesus vor dem Grab. Seine ganze seelsorgerliche Praxis ist gleichgeblieben.
Warum weinst du? Wen suchst du? Was soll ich dir tun? Es geht um den Menschen und nicht den Heiland. Es geht zugleich um uns Menschen und den auferweckten Gottessohn. Jesus wartet. Sieht die Frau, die halb im Grab noch hängt. Deren Blick noch vom Tod gelenkt und sich in ihm den Gärtner denkt. Und Jesus weiß: Ostern beginnt am Grab.Und er sagt: Maria. Ruft sie bei ihrem Namen. Vertrautes Wort. Vertraute Stimme.
Und wie schön ist es, wenn mich jemand beim Namen nennt. Und wenn ich jemanden mit seinem Namen anspreche. Ganz anders, wenn mein Name im Mund des anderen klingt.
Und damit das Leben besingt. Maria. Oder Helmut. Oder Rosi. Oder Heike. Harry oder Manfred.
Jesus sagt: Maria. Und dann? Wendet sie sich ganz um. So heißt es. Maria wagt eine weitere, ja, die zweite Drehung. Jetzt mit dem ganzen Körper. Nicht nur dem Kopf und der Schulter. Nein, sie wendet sich ganz um. Und dreht sich damit vom Grab weg. Raus aus dem Steingrab. Raus aus der Höhle der Traurigkeit. Und zurück ins Leben. Anstrengend – so eine ganze halbe Drehung. Die Fragen im Kopf zum Schweigen bringen. Dem Tod den Mund verbieten.
Die alten Maximen über den Haufen werfen. Harte Arbeit diese zweite Drehung. Die den Blick ändert. Und den Körper neu ausrichtet. Um 180 Grad. Weg vom Alten. Eine neue Botschaft hören. Neue Wahrheiten bedenken. Hoffnung ins Auge nehmen.
Ostern beginnt am Grab. Und alles verändert sich durch eine Drehung. Und was für eine neue Aussicht bietet sich jetzt. Wenn man Grab, Tod, Angst, Sorge den Rücken zukehrt. Was für eine herrliche Aussicht. Wenn man eine unglaubliche Botschaft hört: Der Herr ist auferstanden. Der Tod ist nicht das letzte.
Eins ist klar: Sich drehen, ein wenig und dann etwas mehr, braucht Zeit. Und es braucht Menschen, die da sind. In der Höhle meiner Trauer es wie Jesus tun. Warum weinst du? Wen suchst du? Engel eben. Die mir helfen, den Kopf zu heben und wieder über die Schulter gucken zu können. Die mich ansprechen, mich mit meinem Namen rufen und damit mein Leben sehen und würdigen. Die mich ziehen. Mich nicht im Grab und der Trauer hängen lassen. Und in der Isolation. Die sich gemeinsam mit mir umdrehen und die Botschaft hören. „Er ist wahrhaftig auferstanden.“ Eine 180 Grad Wende. Einmal umgedreht, dem Leben entgegen, und die Welt steht Kopf.
Liebe Gemeinde, Ostern beginnt am Grab.
Da, wo wir unseren Blick oft so schwer wenden können. Da, wo wir zugleich nicht alleine bleiben. Da, von wo aus es weitergeht. Weil er lebt. Und von dort aus geht Maria Magdalena zu den anderen und bringt ihnen die Nachricht, die das Leben wendet: „Ich habe den Herrn gesehen.“ Er ist auferstanden – er ist wahrhaftig auferstanden.
Halleluja! Amen