12 Jesus hat gelitten draußen vor dem Tor, auf dass er das Volk heilige durch sein eigenes Blut. 13 So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen.
14 Denn wir haben hier keine bleibende Stadt,
sondern die zukünftige suchen wir.

Hebräerbrief 13, 12-14

Liebe Gemeinde,
seit einer Woche müssen wir drinbleiben.
Das ist richtig so.
Und es hat, als Ansage von „oben“, etwas Entlastendes.
So empfinde ich es. Denn spätestens jetzt ist klar:
Es geht nicht(s) anderes. Drinbleiben.
Es hilft uns selbst. Und es schützt andere.
Wir kaufen so wenig wie möglich ein. Oder viel zu viel.
Arbeiten von zu Hause, wenn wir denn noch arbeiten können und dürfen. Und nicht dicht machen müssen und Aufträge verlieren. Und uns sorgen. Von drinnen.
Auch ich mache meine Arbeit vom Schreibtisch aus,
am Computer und am Telefon. Mehr noch als sonst.
Über skype und zoom und was es da alles gibt.
Und das geht auch. Und doch fällt all das schwer.
Wir bleiben drin. Und das bringt uns raus.
Wir sind raus aus diesem völlig Selbstverständlichen.
Raus aus dem Alltag. Aus dem Gewohnten.
Manches Gewohnte ist uns lästig.
Da meckern wir gern drüber und sind vielleicht froh,
dass es gerade wegfällt.
Aber manches Gewohnte ist uns auch sehr lieb. Das fehlt uns.
Menschen besuchen, sich verabreden. Geht gerade nicht.
Hände schütteln und Umarmen. Geht gerade nicht.
Und es fehlt mir. Das fällt mir gerade jetzt, wo ich es nicht tun darf, so sehr auf. Und auf der Straße halte ich gern ein Schwätzchen. Von den Gottesdiensten, im Supermarkt, am Fußballplatz.
Geht gerade nicht oder nur kurz und auf Abstand. Und fehlt mir. Ich bleib’ drin. Du bleibst drin. Drum bin ich raus. Und du auch.

»Jesus hat gelitten draußen vor dem Tor.«
Damals. Auf Golgatha. Draußen vor der Stadt.
Wir denken an Jesu Leid in diesen Tagen und Wochen.
Man kaum wohl beschreiben, wie schrecklich das war.
Auch wenn Filme es versuchen. Nicht ansatzweise. Damals.
Aber es war nicht nur damals. Es hört nicht auf.
Jesu Leiden ist kein historischer Fakt,
den man zur Kenntnis nehmen kann.
Jesu Leiden passiert heute. Jetzt.
Und sein Weg nach draußen wird nicht nach drinnen verlegt.
Kein homeoffice aus den schützenden vier Wänden.
Nein, er ist draußen vor dem Tor. Vor unserer Tür.
Und vor den Türen, durch die wir nicht mehr hindurchgehen dürfen. Jesus leidet mit, dort, wo wir keinen Einlass bekommen
– und tritt hindurch. Er liegt im Krankenhaus
bei denen, die keine Luft kriegen.
Er steht neben den Ärztinnen und Pflegern,
wenn sie nicht mehr ein – noch aus wissen.
Er sitzt am Bett der Alten in den Heimen, die niemand mehr besuchen darf. Und auch in den Wohnungen der Einsamen.
Er sitzt auch mit an der Supermarktkasse,
wo sich die Verkäuferinnen und Verkäufer beschimpfen lassen –
und sich Sorgen machen, ob sie sich anstecken.
Er rechnet mit den Gewerbetreibenden
ob sie den kleinen Betrieb noch erhalten können.
Und er ist vor den Toren, die den Blick in diese Welt öffnen. Hin zu denen, die wir jetzt vor lauter eigenen Sorgen fast vergessen:
Bei all den Menschen auf der Flucht, in Lagern, wo es unbeschreiblich grauenvoll ist – und wo jetzt die Bedrohung
durch das Virus noch dazu kommt.
»Jesus hat gelitten draußen vor dem Tor.«
Damals am Kreuz. Und heute leidet er mittendrin.
In unserer Welt. An unserer Welt. Und unsrer wirren Zeit.

»So lasst uns nun hinausgehen aus dem Lager
und seine Schmach tragen.«

Hinausgehen. Ja, das ist schön.
Und viele tun des in diesen Tagen. Zu zweit. Mit der Familie. Wenigstens spazieren. Das „Draußen“ tanken. Wenn es schon nicht mehr zum täglichen Ablauf gehört. Hinausgehen.
Und manch einer geht bewusst los. Nach draußen.
Zum Nächsten. Stellt etwas vor die Tür. Einen Einkauf.
Oder wirft etwas in den Briefkasten. Oder tritt raus auf den Balkon und singt. Und winkt rüber, zu ihr am Fenster, die zur sogenannten Risikogruppe gehört.
Rausgehen. Damit es erträglicher wird.
Mitleiden und rausgehen.
Rausgehen auch aus der Beschäftigung nur mit sich selbst.
So manch einen bedrückt das in diesen Tagen. Das auf sich geworfen sein. Das mit sich sein, tagein, tagaus. Einsamer als sonst.
Rausgehen aus den Gedanken, die um sich selbst kreisen, auch das ist gemeint. Raus. Leid erträglicher machen. Auch das eigene Leiden. Raus, Jesus nach. Und damit auch auf den Weg zu sich selbst, als Menschenkind, das er liebt – bedingungslos.
Nicht direkt seinen Weg gehen, nein. Das können wir nicht. Und das brauchen wir nicht. Aber in seine Fußstapfen treten. Kleiner, ja. Demütig auch. Bescheiden. Und immer in dem Wissen darum, was er mit seinem Weg für uns auf sich genommen hat.
Rausgehen zu ihm, und ihm nach. Für den anderen, für sich selbst.
Wenn wir das Leid anderer tragen, tragen wir Jesu Leid mit.
Und er trägt unseres. Das ist so etwas Gegenseitiges.
Jesus leidet für die Menschen. Und wenn wir mitleidig sind,
sanft, einfühlsam – und doch ganz entschieden –
wenn wir für die anderen da sind: Dann tun wir sein Werk.

»Denn wir haben hier keine bleibende Stadt,
sondern die zukünftige suchen wir.«

Zum ersten Mal merke ich: Nichts bleibt.
Zum ersten Mal kein Toilettenpapier, wenn ich es brauche.
Zum ersten Mal das Gefühl, es könnte nicht reichen.
Die Nudeln – und die Betten im Krankenhaus.
Zum ersten Mal für einen Menschen meiner Generation das Gefühl: es ist nicht alles immer da, verfügbar, nutzbar.
Niemals habe ich das für selbstverständlich erachtet.
Wie wir leben dürfen. Wir, in diesem Land, in Sicherheit,
versorgt mit allem, was wir brauchen. Und doch: Wer hätte gedacht, dass das mal so schnell ins Wanken kommt.
Und da eine diffuse Sorge ums Leben ins Leben tritt. Etwas, das in anderen Ländern dieser Welt an der Tagesordnung ist. Und ich werde demütig. Und gerade dann umso dankbarer. Und aufmerksamer für das um mich herum. Nehme es ins Gebet.
Gerade jetzt. All das draußen, vor dem Tor. Meinem und dem der Welt. Noch vor kurzem haben wir all das, was uns umtreibt,
für völlig undenkbar gehalten. Und hätten die, die es vorausgesagt haben, für verrückt gehalten. Jetzt ist es so, wie es ist.

»Denn wir haben hier keine bleibende Stadt,
sondern die zukünftige suchen wir.«

Aber eines bleibt. Einer bleibt: Jesus Christus. Er ist drinnen und draußen. Ist raus gegangen, um zu leiden, und er kommt mitten rein in unsre Welt. Und das alles um seiner Menschenkinder willen. Da folge ich ihm. Gerade jetzt. So gut ich kann, seiner Spur. Komm mit.

Amen

Pfr.in Dr. T. Esch. inspiriert durch Pfarrer M. Geßler